Kosten­beteiligung

Beeinflusst die Franchise am Jahresende die Gesundheitsnachfrage?

Beeinflusst nicht nur die aktuelle Kostenbeteiligung, sondern auch zukünftige Erwartungen die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen? Da die Auslastung des Gesundheitswesens davon abhängt, sollte die Ausgestaltung der Kostenbeteiligung dies berücksichtigen.

Linn Hjalmarsson
Hauptautorin
Autorinnen und Autoren

Wie reagieren Individuen auf Preisveränderungen? Diese Frage ist zentral in der Volkswirtschaftslehre. Nach der klassischen Theorie handeln alle Marktteilnehmer «rational» und berücksichtigen alle Aspekte des Preises bei ihren Kaufentscheidungen. Demnach sind Individuen vorausschauend und bedenken zukünftige Preisentwicklungen bei ihren Entscheiden in der Gegenwart. Ob dies tatsächlich so ist, lässt sich anhand der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen untersuchen. Durch Franchise und Selbstbehalt können sich der kurzfristige und der langfristige «Preis» unterscheiden, da die bisher geleistete Kostenbeteiligung zum Jahreswechsel wieder auf null gesetzt wird. Hat ein Patient im laufenden Jahr die Kostenbeteiligung überschritten, ist der «Dezemberpreis» für eine medizinische Leistung deutlich niedriger als der «Januarpreis». Chronisch kranke Patienten, die jedes Jahr ihre Franchise erreichen, erfahren diesen «Preissprung» zwar, aber langfristig betrachtet bleibt der Preis genau gleich. Sie sparen also keinen einzigen Franken, wenn sie Leistungen aufgrund des tiefen Preises im Dezember vorziehen. Wenn wir jedoch beobachten, dass Patienten trotz fehlender langfristiger Ersparnis ihr Verhalten ändern, deutet dies darauf hin, dass die Kostenbeteiligung zu unbeabsichtigten Verhaltensverzerrungen führt.

Fokus auf chronische Medikamente

Um herauszufinden, ob Individuen ihre Gesundheitsnachfrage aufgrund kurzfristiger Preisänderungen (irrational) anpassen, konzentrieren wir uns auf Patienten mit chronischen Krankheiten, die daher regelmässig entsprechende Medikamente benötigen: Depressionen (Antidepressiva), Diabetes Typ I (Insulin), Diabetes Typ II (Antidiabetika), Bluthochdruck (Blutdrucksenker) oder hohes Cholesterin (Lipidsenker). Diese Medikamente verursachen hohe Gesundheitskosten, weshalb die betroffenen Patienten oft die tiefste Franchise wählen. Aufgrund der hohen Kosten erreichen sie meist früh im Jahr die Franchise. Sie erleben somit zwar auch den starken Anstieg der Kostenbeteiligung zu Beginn jedes Jahres, doch der langfristige Preis bleibt über den Jahreswechsel hinweg gleich. Medikamente eignen sich deshalb besonders für die Analyse, weil chronisch kranke Patienten einen stetigen Medikamentenbedarf haben, gleichzeitig Medikamente aber auch lagerbar sind. Der Zeitpunkt des Kaufs ist daher planbar, womit wir eine eventuelle Preisreaktion gut beobachten können.

Patienten machen Weihnachtseinkäufe …

Falls Patienten mit chronischen Krankheiten auf den Preissprung am Jahreswechsel reagieren, müssten sie vor dem Jahreswechsel mehr Medikamente kaufen als danach. Wir nutzen deshalb tagesgenaue Daten zur Menge der täglichen Dosis (sog. «defined daily dosage», kurz DDD), die an einem entsprechenden Tag gekauft wurde. Diese Datenstruktur ermöglicht uns eine Regressions-Diskontinuitäts-Analyse, bei der wir die Differenz zwischen der durchschnittlichen Anzahl gekaufter DDD am Jahresende- und anfang schätzen. Da wir vor und nach dem Jahreswechsel dieselben Patienten beobachten und sich ausser der Kostenbeteiligung nichts ändert, können wir den kausalen Effekt der Preisänderung auf die gekaufte Menge an DDD identifizieren. Unsere Ergebnisse zeigen deutlich: Am Jahresende, wenn die Patienten ihre Medikamente (fast) «gratis» beziehen können, kaufen sie signifikant mehr Medikamente als nach dem Jahreswechsel, wenn sie grösstenteils selbst zahlen müssen. Die Differenz variiert je nach Medikamentengruppe und liegt zwischen 0.6 DDD für Antidepressiva und 1.1 DDD für Antidiabetika pro Tag. Hochgerechnet auf einen Monat entspricht das im Durchschnitt etwa 30 DDD, also gerade einer Monatspackung. Mit anderen Worten, im Dezember wird im Schnitt eine Monatsdosis mehr gekauft als im Januar. Durchschnittlich werden über das gesamte Jahr pro Tag 2.2 DDD gekauft. Unser geschätzter Effekt von 1.1 DDD entspricht rund 50% davon — die Reaktion auf die kurzfristige Preisänderung ist also beträchtlich.

… aber auch Ferieneinkäufe

Zwischen Weihnachten und Neujahr ist der Zugang zu Gesundheitsinstitutionen wegen der Feiertage eingeschränkt. Patienten könnten daher aus Vorsicht vor den Feiertagen mehr Medikamente kaufen, um sicher ausreichend versorgt zu sein. Wenn wir diesen «Ferieneffekt» nicht berücksichtigen, könnten wir also den Effekt der Preisveränderung überschätzen. Um das zu prüfen, wenden wir die gleiche Methode auf die Sommermonate an, in denen wir ebenfalls einen Ferieneffekt erwarten. Tatsächlich zeigt sich auch dort ein solcher Effekt. Übertragen auf den Jahreswechsel bleibt jedoch mindestens ein Drittel des Preiseffekts bestehen. Das heisst, obwohl die Ferien und Feiertage eine Rolle spielen, bleibt die kurzfristige Preisänderung am Jahreswechsel ein relevanter Faktor für die erhöhte Medikamentennachfrage im Dezember

Kein Januarloch

Ein weiterer möglicher Einflussfaktor ist das sogenannte "Januarloch". Vielleicht kaufen Patienten ihre Medikamente im Dezember, um Ausgaben im Januar zu vermeiden, wenn das verfügbare Geld knapp sein könnte. Hierfür vergleichen wir Patienten, bei denen wir eher finanzielle Probleme vermuten, mit solchen, bei denen das weniger wahrscheinlich ist. Eine Möglichkeit ist, Personen mit und ohne Prämienverbilligung zu vergleichen, da sich diese im Einkommen deutlich unterscheiden. Jedoch zeigen Patienten, die Prämienverbilligungsempfänger sind, und Patienten, die keine Prämienverbilligung erhalten, eine vergleichbare Preisreaktion am Jahreswechsel. Daraus schliessen wir, dass das Januarloch keinen Einfluss auf das beobachtete Patientenverhalten hat.

Verzerrungen durch Kostenbeteiligung

Unsere Ergebnisse zeigen, dass Menschen auf das Zurücksetzen der Kostenbeteiligung zu Beginn jedes Jahres reagieren. Kurzfristige Preisänderungen beeinflussen also ihr Verhalten — selbst wenn sie damit langfristig keine (selbstgetragenen) Kosten sparen. Während sie kurzfristig vorausschauend handeln, erfassen sie die Komplexität der längeren Frist scheinbar nicht vollständig. Aus Sicht der Krankenversicherer und im Hinblick auf die Gesamtkosten sind diese “Weihnachtseinkäufe” grundsätzlich kein Problem, denn die gesparte Kostenbeteiligung fällt für die Patienten einfach im folgenden Jahr an. Unsere Ergebnisse liefern jedoch weitere Evidenz dafür, dass die Gestaltung der Kostenbeteiligung zu irrationalem und teilweise sogar gesundheitsgefährdendem Verhalten führen kann. Eine Möglichkeit wäre, chronische Medikamente vollständig von der Franchise zu befreien und stattdessen eine konstante Kostenbeteiligung einzuführen. Zudem sollten Patienten besser informiert werden, damit sie die Regeln der Krankenversicherung verstehen und souveräne Entscheidungen treffen können.


Linn Hjalmarsson
Research Affiliate
Michael Gerfin
Professor Universität Bern