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Führt Selbstdispensation zu weniger Generika?

​​Eine Mehrheit der Deutschschweizer Kantone erlaubt, dass Ärzte ihren Patienten direkt Medikamente abgeben. Da diese Praxis nicht unumstritten ist, haben wir untersucht, wie sich die Selbstdispensation auf die Medikamentenkosten auswirkt.

Christian P.R. Schmid
Hauptautor
Autorinnen und Autoren

In vielen Deutschschweizer Kantonen dürfen Ärzte ihren Patienten direkt in der Praxis Medikamente abgeben, eine Praxis, die als Selbstdispensation bekannt ist. Nur in den Kantonen Basel-Stadt und Aargau ist dies grundsätzlich verboten, während es in Bern und Graubünden gewisse Einschränkungen gibt. Diese Regelung hat ihre Wurzeln in der ländlichen Versorgung, wo der Zugang zu Apotheken oft eingeschränkt ist. Zudem spiegelt die Selbstdispensation offenbar ein Bedürfnis der Bevölkerung wider, wie kantonale Abstimmungen der letzten Jahre zeigen.

Negative Anreize für Ärzte

Während Patienten von der Selbstdispensation zumindest zeitlich profitieren, weil sie sich den Weg in die Apotheke sparen, schafft sie bei Ärzten negative Anreize. Da sie mit jeder Medikamentengabe eine Marge verdienen, können sie ihr Einkommen aufbessern, indem sie zusätzliche oder teurere Medikamente abgeben. Die zusätzlichen Kosten müssten die Patienten und Prämienzahler tragen. Allerdings handeln Ärzte auch im Interesse ihrer Patienten — der Eigennutzen wird demnach dem Patientennutzen untergeordnet. So scheint es wenig wahrscheinlich, dass Ärzte ihren Patienten Medikamente abgeben, die diese gar nicht brauchen. Letztlich ist es eine empirische Frage, ob und inwieweit die negativen Anreize zu Mehrkosten führen. Diese Frage lässt sich jedoch nicht einfach beantworten, denn ob ein Arzt selbst Medikamente abgibt und auf die finanziellen Anreize reagiert, hängt von vielen Faktoren ab, die teilweise nicht beobachtbar sind. So lohnt sich beispielsweise die Medikamentenabgabe für Ärzte, deren Patienten viele Medikamente benötigen, wesentlich mehr, als für Ärzte, die kaum Medikamente verschreiben. Die Selbstselektion aufgrund des Entscheides des einzelnen Arztes zu dispensieren oder nicht, könnte bei einem direkten Vergleich der Medikamentenkosten von selbstdispensierenden und nicht selbstdispensierenden Ärzten also zu Fehlschlüssen führen.

Kanton Zürich als “natürliches Experiment”

Deshalb fokussieren wir hier auf den Kanton Zürich. Seit 1951 war es den Ärzten in den Städten Winterthur und Zürich verboten, Medikamente an die Patienten abzugeben, im restlichen Kantonsgebiet war die Selbstdispensation hingegen erlaubt. Aufgrund einer kantonalen Volksinitiative, der die Bevölkerung am 30. November 2008 mit 53.7% zugestimmt hatte, sollte die Selbstdispensation auch in den beiden grössten Städten des Kantons ab 2010 erlaubt werden. Dabei war die Zustimmung auf dem Land am grössten, in den beiden Städten wurde die Vorlage hingegen abgelehnt.  Aufgrund diverser juristischer Auseinandersetzungen kam es jedoch zu Verzögerungen, weshalb die Ärzte erst ab Anfang Mai 2012 auch in den Städten Winterthur und Zürich Medikamente abgeben durften. Dieses Szenario bietet uns ein „natürliches Experiment“: Die Ärzte ausserhalb der Städte dienen als Kontrollgruppe, da sie keine Änderung erfahren haben und wir deshalb auch keine Verhaltensanpassungen erwarten. Wir können also das Verhalten der Ärzte vor und nach der Einführung der Selbstdispensation beobachten und dabei die Ärzte innerhalb und ausserhalb der beiden Städte vergleichen. Dieser Differenzen-in-Differenzen-Ansatz erlaubt es uns, den kausalen Effekt der Selbstdispensation auf das Verschreibungs- und Abgabeverhalten der Ärzte zu schätzen.

Höhere Kosten durch Selbstdispensation

Unsere Schätzungen zeigen, dass die jährlichen Medikamentenkosten pro Patient durch die Selbstdispensation insgesamt um 20 bis 30 Franken gestiegen sind, was einer Erhöhung von rund vier bis fünf Prozent entspricht. Die Grafik zeigt zwei Effekte der Regulierungsänderung getrennt. Einerseits kommt es zu der erwarteten Verschiebung der Medikamentenabgabe von Apotheken zu Ärzten, was wir als «Substitution» bezeichnen. Dadurch nimmt der Umsatz der Ärzte zu, selbst wenn sie ihr Verhalten nicht verändern. Andererseits steigen die Gesamtkosten jedoch so stark, dass dies nicht allein durch diese Verlagerung erklärt werden kann. Dies deutet darauf hin, dass Ärzte ihre Einnahmen durch die Wahl der abgegebenen Präparate zusätzlich steigern konnten. Wir haben deshalb untersucht, welche Strategien hierfür angewendet wurden. Dabei fanden wir heraus, dass Ärzte weder mehr Patienten medikamentös behandeln noch höhere Dosen verschreiben. Stattdessen wählten sie Packungsgrössen und Medikamente, die für sie profitabler sind. Sie betreiben also Margenoptimierung bei gleichbleibender Verschreibungspraxis. Schliesslich zeigt sich auch, dass nicht alle gleich auf die finanziellen Anreize der Selbstdispensation reagieren: Bei Ärzten, deren Patienten in einem alternativen Versicherungsmodell (bspw. Hausarztmodell) versichert sind, findet sich kein signifikanter Effekt auf die Medikamentenkosten. Die Mehrkosten wurden also hauptsächlich durch Ärzte verursacht, die nicht im Rahmen eines Managed-Care-Modells arbeiten.

Fehlanreize beseitigen

Die Frage, ob die Selbstdispensation deshalb verboten werden sollte, lässt sich aus gesundheitsökonomischer Sicht nicht eindeutig beantworten. Einerseits kann die Bevölkerung nicht nur mitbestimmen, sondern sie trägt auch die finanziellen Folgen ihres Entscheids selbst. Wenn die Bevölkerung eines Kantons bereit ist, für die ärztliche Medikamentenabgabe höhere Arzneimittelkosten in Kauf zu nehmen, dann ist das zu akzeptieren. Mit Blick auf die vergangenen Abstimmungen in den Kantonen Aargau (2013), Zürich (2008) und Schaffhausen (2012) scheint es durchaus Präferenzunterschiede zu geben, die mit der heutigen, kantonalen Souveränität abgebildet werden können. Der Beitrag der Gesundheitsökonomie liegt hier somit darin, die Kostenfolge möglichst präzise abzuschätzen und so einen fundierten Entscheid zu ermöglichen. Andererseits gibt es eine elegantere Lösung, welche die Fehlanreize beseitigen könnte, ohne im Widerspruch zu den Präferenzen von Teilen der Bevölkerung zu stehen: Anreizneutrale Margen. Eine preisunabhängige Ausgestaltung der Margen hätte zudem den Vorteil, dass sie auch die Fehlanreize bei den Apotheken eliminieren würde. Politisch wird diese Lösung aktuell diskutiert. Ob und wie sich die Medikamentenabgabe dadurch tatsächlich ändert, wird sich also womöglich in Zukunft analysieren lassen.


Christian P.R. Schmid
Institutsleiter
Michael Gerfin
Professor Universität Bern
Tobias Müller
Professor Berner Fachhochschule (BFH)