Medikamente

Senkt der differenzierte Selbstbehalt die Gesundheitskosten?

Lassen sich die Gesundheitskosten durch den Einsatz von Marktmechanismen reduzieren? Anhand des differenzierten Selbstbehalts für teure Medikamente können wir die Reaktionen von Produzenten und Patienten auf solche Massnahmen untersuchen.

Christian P.R. Schmid
Hauptautor
Autorinnen und Autoren

Sinn und Zweck einer Krankenversicherung ist es, die finanziellen Folgen von Krankheiten abzufedern. Dass Patienten die Kosten für ihre medizinischen Leistungen nicht vollständig selbst tragen, entspricht also der Grundidee einer Versicherung. Doch dieses Prinzip kann unerwünschte Nebeneffekte haben. Wenn Patienten die Preise der Leistungen, wenn überhaupt, nur zu einem kleinen Teil selbst bezahlen, haben sie möglicherweise wenig Anreiz, günstigere Alternativen zu suchen. Gleichzeitig könnten Leistungserbringer und Hersteller von medizinischen Gütern wissen, dass sie deshalb höhere Preise durchsetzen können. Mit anderen Worten, die hohen Kosten im Gesundheitswesen sind möglicherweise auch eine Folge davon, weil der Preiswettbewerb eingeschränkt ist. Können also regulatorisch eingeführte Marktmechanismen dazu führen, dass die Patienten günstigere Alternativen wählen, Hersteller tiefere Preise setzen und die Gesamtkosten sinken. Ob das tatsächlich auch passiert, haben wir anhand des differenzierten Selbstbehalts für Arzneimittel analysiert. Dieser sorgt dafür, dass Patienten für medizinisch gleichwertige Medikamente unterschiedliche Preise zahlen. Er bietet daher ein ideales Fallbeispiel, um das Verhalten von Patienten und Arzneimittelherstellern zu untersuchen.

Selbstbehalt von 20% statt 10%

Die Kostenbeteiligung in der Schweiz besteht hauptsächlich aus zwei Elementen, der Franchise und dem Selbstbehalt. Bis zum Erreichen der Franchise zahlen Patienten die Kosten der in Anspruch genommenen Leistungen vollständig selbst. Danach beteiligen sie sich grundsätzlich mit zehn Prozent an den Kosten (Selbstbehalt), bis der jährliche Höchstbetrag von derzeit 700 Franken erreicht ist. Es gibt jedoch eine Ausnahme: Sind mehrere Arzneimittel mit gleicher Wirkstoffzusammensetzung verfügbar, kann der Selbstbehalt höher als zehn Prozent ausfallen. Der höhere Selbstbehalt von 20% wird angewendet, wenn teure Arzneimittel innerhalb einer Gruppe mit gleicher Wirkstoffzusammensetzung einen Preis über einem für diese Gruppe berechneten Schwellenwert haben. Mit dem differenzierten Selbstbehalt werden zwei Ziele verfolgt. Erstens soll er Patienten einen Anreiz bieten, auf günstigere Medikamente zu wechseln. Zweitens soll er Hersteller dazu bewegen, ihre Preise zu senken. Bevor der differenzierte Selbstbehalt zur Anwendung kommt, werden die Hersteller informiert und haben so die Möglichkeit, ihre Preise anzupassen. Wir betrachten eine Reform aus dem Jahr 2011, die dazu führte, dass deutlich mehr Arzneimittel als zuvor vom höheren Selbstbehalt betroffen sein konnten.

Produzenten senken die Preise

Wenn ein teures Arzneimittel Gefahr läuft, unter den höheren Selbstbehalt zu fallen, steht dessen Produzent vor einer Entscheidung. Er kann er den Preis senken, was wahrscheinlich zu einem geringeren Umsatz führt. Oder er behält den Preis bei, muss aber damit rechnen, dass Patienten auf günstigere Alternativen wechseln, was ebenfalls den Umsatz schmälert. Die Entscheidung wird dadurch erschwert, dass das Verhalten der anderen Hersteller ebenfalls einen Einfluss darauf hat, wie viele Patienten womöglich das Arzneimittel wechseln. Senken andere Produzenten ihre Preise, um dem höheren Selbstbehalt zu entgehen, werden ihre Medikamente für Patienten attraktiver. Die Preissetzung eines Herstellers hängt also davon ab, wie stark Patienten auf Preisänderungen reagieren und welches Verhalten er von seinen Mitbewerbern erwartet. Da die Preise für Medikamente öffentlich sind und wir auch wissen, welchen Arzneimitteln ein höherer Selbstbehalt drohte, können wir die Preisreaktion der Produzenten analysieren. Weil jeweils die günstigsten Medikamente nicht vom höheren Selbstbehalt betroffen waren, haben wir auch eine Vergleichsgruppe, bei der wir gar keine Preisreaktion erwarten. Unsere Analysen zeigen deutlich, dass die teuren Arzneimittel per Inkrafttreten der Reform günstiger wurden. Die Preise sanken durchschnittlich um rund 12.40 Franken oder etwa 9.9 Prozent. Die günstigen Arzneimittel zeigten hingegen keine Preisreduktion. Allerdings senkten nicht alle Produzenten ihre Preise: Während Generikahersteller in über vier von fünf Fällen den Preis reduzierten, taten dies bei Originalpräparaten knapp weniger als die Hälfte der Hersteller. Insgesamt kam es aber zu einer erheblichen Preisanpassung — der differenzierte Selbstbehalt zeigte bei den Produzenten also die gewünschte Wirkung.

Patienten wechseln das Arzneimittel

Da nicht alle Hersteller die Preise gesenkt haben, können wir analysieren, wie sich der differenzierte Selbstbehalt auf das Verhalten der Patienten auswirkt. Konkret fragen wir uns, ob Patienten von den für sie nun merklich teureren auf günstigere Arzneimittel umsteigen. Zur Beantwortung dieser Frage verwenden wir Daten von zwei Krankenversicherungen, die Informationen über die abgegebenen Arzneimittel und die verrechnete Kostenbeteiligung enthalten. Wie aus der Abbildung ersichtlich ist, sinkt nach der Reform die Wahrscheinlichkeit, ein teures Arzneimittel zu beziehen, um rund 1.5 Prozentpunkte. Mit anderen Worten, Patienten wechseln das Arzneimittel, wenn sie dafür einen höheren Selbstbehalt zahlen müssen. Der Effekt ist bei Originalpräparaten mit 1.3 Prozentpunkten deutlich geringer als bei Generika, wo ein Rückgang von 4.3 Prozentpunkte zu verzeichnen ist. Das bedeutet, dass Patienten, die Generika beziehen, deutlich stärker auf den höheren Selbstbehalt reagieren als jene, die Originalpräparate kaufen. Dieses Muster findet sich auch in anderen Studien. Es erstaunt daher nicht, dass Hersteller von Originalmedikamenten ihre Preise seltener reduzierten als die Generikahersteller. Berücksichtigt man, dass der höhere Selbstbehalt nur greift, wenn die Franchise bereits überschritten, der Höchstbetrag aber noch nicht erreicht ist, ist die Reaktion der Patienten dennoch beachtlich. Der differenzierte Selbstbehalt zeigt also auch bei den Patienten die gewünschte Wirkung.

Gesamte Marktreaktion wichtig

Auf die gesamte Schweiz hochgerechnet wurden im ersten Jahr nach der Reform knapp 20 Millionen Franken an Medikamentenkosten eingespart. Der grösste Teil dieser Einsparungen basiert auf den Preisreduktionen der Hersteller. Dabei muss jedoch bedacht werden, dass die Preisreduktionen dazu dienen sollten, einer Patientenabwanderung zuvorzukommen. Hätten die Produzenten ihre Preise nicht angepasst, wäre die Reaktion der Patienten wahrscheinlich noch stärker ausgefallen. Dass die Hersteller auf das erwartete Verhalten der Patienten reagieren, zeigt exemplarisch, dass Marktmechanismen im Gesundheitswesen funktionieren können. Während die Kostenbeteiligung oft ein unpräzises Instrument ist, wird sie hier zielgerichtet eingesetzt, um Wettbewerb zu erzeugen und so Medikamente günstiger zu machen. Es wäre daher prüfenswert, nicht nur bei Medikamenten auf eine differenzierte Kostenbeteiligung zu setzen.


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Christian P.R. Schmid
Institutsleiter
Michael Gerfin
Professor Universität Bern
Fabienne Lötscher
ehemalige Doktorandin Universität Bern