
Was passiert, wenn die Grundversicherung ausgebaut wird?
Die Deckung der obligatorischen Krankenversicherung wird stetig ausgebaut. Welche Konsequenzen hat das für die Kosten in der Grundversicherung und auf das Verhalten der Leistungserbringer? Wir haben das am Beispiel der Komplementärmedizin analysiert.
Am 17. Mai 2009 stimmte das Schweizer Volk «für die Berücksichtigung der Komplementärmedizin» durch Bund und Kantone im Rahmen der jeweiligen Zuständigkeit, wobei die Zustimmung bei 67% lag. Im Bereich der obligatorischen Krankenversicherung wurde der neue Verfassungsartikel durch die Aufnahme von vier Behandlungsmethoden in den «Leistungskatalog» umgesetzt: Ärztliche Leistungen im Bereich der anthroposophische Medizin, Akupunktur sowie Arzneimitteltherapie der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), Homöopathie und Phytotherapie sind seit 2012 durch die Grundversicherung gedeckt. Vorher mussten diese Behandlungsmethoden entweder durch die Patienten aus der eigenen Tasche oder durch eine private Zusatzversicherung bezahlt werden. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Was sind die finanziellen Konsequenzen für die Grundversicherung und wie verändert sich das Verhalten der Ärzte durch diese Deckungsausweitung?
Ärzte im Vergleich
Für unsere Analysen nutzen wir aus, dass komplementärmedizinische Leistungen nur von Ärzten abgerechnet werden können, die über eine entsprechende Weiterbildung verfügen. Weiter ist wichtig, dass diese Weiterbildungen bereits lange vor der Abstimmung und deren Umsetzung absolviert werden konnten. So existieren die heutigen Fähigkeitsprogramme für Homöopathie, Traditionelle Chinesische Medizin und anthroposophische Medizin seit 1999. Entsprechend gab es Ärzte, die bei der Aufnahme der vier komplementärmedizinischen Leistungen in die Grundversicherung bereits über eine Weiterbildung verfügten, aber auch Ärzte ohne solche Weiterbildung. Durch einen Vergleich dieser beiden Ärztegruppen über die Zeit, können wir die Auswirkungen der Deckungsausweitung untersuchen. Dabei stellen Ärzte ohne komplementärmedizinische Weiterbildung die «Kontrollgruppe» dar, weil sich für sie direkt nichts geändert hat.
Daten aus zwei Quellen
Um das Verhalten der Ärzte zu analysieren, verwenden wir Daten aus zwei Quellen, die beide den Zeitraum von 2007 bis 2017 umfassen. Einerseits nutzen wir den «Datenpool» von SASIS, der praktisch alle von den Schweizer Krankenversicherern gedeckten Leistungen in der Grundversicherung enthält. Diese Daten haben den Vorteil, dass sich die finanziellen Konsequenzen der Deckungsausweitung sehr präzise beurteilen lassen. Andererseits nutzen wir Daten der CSS, die rund einen Sechstel der Bevölkerung versichert. Diese Daten haben den Vorteil, dass sie auch durch die Zusatzversicherung bezahlte Leistungen enthalten. Das ermöglicht uns, die Reaktion der Ärzte auf die Deckungsausweitung vertieft zu analysieren. Obwohl die CSS Daten nur eine Teilmenge des Datenpools darstellen, sind sie durchaus vergleichbar und insbesondere in den für uns wichtigen Arztleistungen sehr ähnlich: Im Datenpool betragen die Arztleistungen pro Patient vor der Deckungsausweitung für die Ärzte mit komplementärmedizinsicher Weiterbildung 381 Franken, während es in den CSS Daten 380 Franken sind. In der Kontrollgruppe sind es 333 bzw. 334 Franken, die Differenz zwischen den beiden Datenquellen beträgt also auch hier lediglich einen Franken.
Finanzielle Auswirkungen
Die untenstehende Grafik zeigt den Verlauf der Kosten pro Patient für die Gruppe der «Alternativmediziner», also Ärzte mit einer entsprechenden Weiterbildung vor der Deckungsausweitung, und der Kontrollgruppe. Dabei sind zwei Dinge bemerkenswert: Erstens sind die Arztleistungen der Alternativmediziner deutlich höher als diejenigen der Kontrollgruppe, aber sie weisen bis 2011 einen parallelen Verlauf auf. Zweitens kommt es zum Zeitpunkt der Deckungsausweitung, also per 2012, zu einem deutlichen Kostenanstieg bei den Alternativmedizinern. Dieser beträgt rund 25 Franken pro Patient, was 7.1% der Arztleistungen entspricht. Eine detaillierte Auswertung zeigt, dass dieser Kostenzuwachs fast ausschliesslich durch homöopathisch tätige Ärzte verursacht wird, bei denen die Kosten um rund 70 Franken pro Patient anstiegen. Die Aufnahme der vier Behandlungsmethoden in den Leistungskatalog hat also die Kosten in der Grundversicherung erhöht. Allerdings wissen wir nun noch nicht, ob sich diese Erhöhung durch eine Verhaltensänderung oder eine Verlagerung der Kosten aus der Zusatz- in die Grundversicherung erklären lässt.

Keine Verhaltensänderung
Betrachtet man nun den Kostenverlauf in der zweiten Grafik, die nur auf den CSS Daten basiert, weist dieser ein sehr ähnliches Muster auf. Der Trend in den beiden Gruppen vor der Deckungsausweitung ist nahezu parallel, im Jahr 2012 kommt der Anstieg bei den Alternativmedizinern. Allerdings ist diese Grafik um zwei weitere Linien ergänzt. Die violette Linie unten zeigt den Verlauf der durch die Zusatzversicherung gedeckten Kosten für alternativmedizinische Leistungen, die rote Linie oben zeigt die insgesamt durch die Alternativmediziner verursachten Kosten, also die Summe aus Grund- und Zusatzversicherung. Die violette Linie zeigt auf das Jahr 2012 hin einen Rückgang, was wenig erstaunt, denn ein Teil der Komplementärmedizin wird ja nun von der Grundversicherung gedeckt. Interessant ist jedoch der Vergleich der roten Linie und dem Verlauf in der Kontrollgruppe. Hier ergibt sich nun keine Differenz mehr auf das Jahr 2012 hin, das heisst, die Alternativmediziner haben aufgrund der Deckungsausweitung nicht mehr Leistungen erbracht. Es gibt also keine Hinweise auf eine Mengenausweitung, die Leistungen werden lediglich anders finanziert als vorher.

Verteilungseffekte
Es gibt mehrere Möglichkeiten, weshalb es zu keiner Mengenausweitung kommt. Erstens könnte es ein, dass die Nachfrage nach alternativmedizinischen Leistungen nicht sehr preissensitiv ist. Es ist also möglich, dass die Präferenzen der Versicherten eine viel wichtiger Rolle spielen als die Versicherungsdeckung. Zweitens hat sich für die Versicherten vielleicht gar nicht so viel verändert, denn rund zwei Drittel verfügten vor 2012 bereits über eine Zusatzversicherung, die alternativmedizinische Leistungen bezahlt. Für diese Gruppe hat sich der Preis nur geringfügig geändert. Wenn also eine Kundengruppe keine Präferenz für die Leistung hat und die andere keine echte Veränderung erfährt, ist das Ausbleiben einer Mengenreaktion auch nicht erstaunlich. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber, dass die Zustimmung zum Verfassungsartikel und der Anteil der Bevölkerung mit einer Zusatzversicherung für Komplementärmedizin sehr ähnlich sind. Es besteht also die Möglichkeit, dass sich die Mehrheit eine Leistung solidarisch durch eine Minderheit mitfinanzieren lässt, obwohl diese keinerlei Präferenz für diese Leistung hat.
Fortwährender Leistungsausbau
Letztlich geht es also darum, was alles in die Grundversicherung gehört, und auch um die Frage nach der gerechten Verteilung der Gesundheitskosten. Im vorliegenden Fall kann man argumentieren, dass der Betrag relativ klein ist. Tatsächlich fallen heute schweizweit nur gerade einmal 18 Millionen Franken für die Komplementärmedizin in der Grundversicherung an. Andererseits gab es vor der Reform einen funktionierenden Markt und Versicherungsprodukte, welche die Bedürfnisse der Versicherten in diesem Bereich abgedeckt haben. Es ist daher fraglich, ob aus ökonomischer Sicht die Deckungsausweitung gerechtfertigt war. Jüngst kam es zu einem weiteren Ausbau der Grundversicherung in den Bereichen Podologie und psychologische Psychotherapie, der erneut teilweise zu Lasten der Zusatzversicherung ging. In der Tendenz nimmt der solidarisch finanzierte Anteil – und damit die Prämien in der Grundversicherung – stetig zu, während die private Finanzierung zurückgeht. Mit Blick auf die steigende Prämienlast wäre es daher wünschenswert, wenn der Trade-off zwischen Leistungsumfang und Prämie in der politischen Diskussion mehr Gewicht erhalten würde.