Wie reagieren Menschen auf eine absehbare Erhöhung der Kostenbeteiligung?
Verändert sich die Nachfrage nach medizinischen Leistungen, wenn sich der Preis dafür über die Zeit ändert? Legen Menschen ihre Inanspruchnahme zeitlich so fest, dass sie möglichst wenig selbst bezahlen müssen? Die Antwort darauf ist wichtig, um die Wirkung der Kostenbeteiligung beurteilen zu können.
Die Grosszügigkeit einer Krankenversicherung, also der Umfang der Versicherungsdeckung, geht mit einem fundamentalen Zielkonflikt einher, denn je grosszügiger die Deckung, desto besser für die versicherten Personen. Allerdings führt eine umfangreichere Versicherungsdeckung auch zu überproportional höheren Prämien. Die versicherten Personen haben nämlich einen Anreiz, mehr Leistungen in Anspruch zu nehmen, als sie nachfragen würden, wenn sie die Leistungen vollumfänglich selbst bezahlen müssten. Um diesem Anreiz etwas entgegenzuwirken, beinhalten die meisten Versicherungsverträge eine Form der Kostenbeteiligung.
In der Praxis ist die Kostenbeteiligung oft auf ein Jahr ausgelegt. Das führt dazu, dass der Anteil an den Gesamtkosten, die ein Patient für eine Behandlung selbst bezahlen muss, am Jahresbeginn häufig höher ist als am Jahresende. Anders ausgedrückt, der Preis für den Patienten ist im Dezember tiefer als im Januar. Dies könnte Patienten dazu verleiten, planbare Behandlungen eher im Dezember zu machen als im Januar, was den kostendämpfenden Effekt der Kostenbeteiligung schmälern würde. Inzwischen gibt es Evidenz, dass Patienten ihre Behandlungen verschieben, um weniger selbst bezahlen zu müssen. Allerdings ist unklar, ob Preisveränderungen über die Zeit nur einen Einfluss auf den Behandlungszeitpunkt oder auch auf die Gesamtnachfrage haben. Wir versuchen daher die Frage, ob die zeitliche Variation in der Kostenbeteiligung deren Wirkung schmälert, zu beantworten.
Gleicher Preis heute, nicht aber morgen
Um zu untersuchen, wie sich zukünftige Änderungen in der Kostenbeteiligung auswirken, brauchen wir zwei Gruppen. Mitglieder der beiden Gruppen sollten heute die gleiche, aber zukünftig eine unterschiedliche Kostenbeteiligung aufweisen. Ferner sollte die Gruppenzuteilung zufällig sein, denn sonst hängt die beobachtete Nachfrage auch von der Gruppenwahl der Mitglieder ab. Eine solche Ausgangslage bietet das Schweizer Gesundheitswesen bei Personen, die «erwachsen» werden.
Für Erwachsene ab 18 Jahren beträgt die ordentliche Franchise 300 Franken, während sie für Kinder null Franken beträgt. Ebenso erhöht sich der jährliche Höchstbetrag für den Selbstbehalt von 350 auf 700 Franken. Damit erhöht sich die Kostenbeteiligung, wenn Versicherte erwachsen werden. Weil die Krankenversicherung aber auf ein Jahr ausgelegt ist, wird man nicht an seinem Geburtstag «erwachsen», sondern auf Beginn des nächsten Jahres. Damit gelten Versicherte im Jahr 2024, die am 31. Dezember 2005 Geburtstag haben, als «Erwachsene», während Versicherte, die am 1 Januar 2006 – also einen Tag später – Geburtstag haben, noch als «Kinder». Da der Geburtstermin um den Jahreswechsel zufällig ist, haben wir die ideale Ausgangslage. Im Jahr 2023 haben beide Gruppen die gleiche Kostenbeteiligung, im Jahr darauf hingegen nicht mehr. Damit können wir die Wirkung zukünftiger Preisänderungen auf die heutige Nachfrage analysieren.
Unsere Analyse basiert auf 15'000 Versicherten, die ihren Geburtstag im Dezember oder Januar haben und zwischen 2010 und 2020 erwachsen wurden.
Vorausschauendes Verhalten bei Männern
Die Ergebnisse zeigen, dass es einen Anstieg der Gesundheitsausgaben bei Männern gibt, die wissen, dass sie im nächsten Jahr mehr Kosten selbst tragen müssen. Im Durchschnitt erhöhen sie ihre Ausgaben für ambulante Behandlungen um etwa 40 Franken oder rund 5 Prozent. Dieser Effekt ist bei Männern besonders stark ausgeprägt, die vor ihrem 18. Geburtstag vergleichsweise wenig Gesundheitsleistungen in Anspruch genommen haben. Diese Gruppe hat im letzten Jahr vor der Preiserhöhung einen deutlichen Anreiz, ihre Arztbesuche vorzuziehen, bevor die höhere Franchise und der höhere Selbstbehalt gelten.
Interessanterweise findet diese Anpassung des Verhaltens vor allem bei Besuchen bei Fachärzten statt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann im letzten Jahr vor der Preiserhöhung einen Facharzt aufsucht, steigt um 7 Prozent. Das deutet darauf hin, dass Männer medizinische Behandlungen, die sie normalerweise auf später verschieben würden, vorziehen, um Kosten zu sparen. Bei Hausarztbesuchen ist der Effekt weniger stark, was darauf hindeutet, dass es sich bei Facharztbesuchen eher um planbare, nicht akute Behandlungen handelt.
Warum reagieren Frauen weniger stark?
Überraschend ist, dass Frauen deutlich weniger vorausschauendes Verhalten zeigen. Während bei Männern eine signifikante Steigerung der Gesundheitsausgaben beobachtet wird, bleiben die Ausgaben der Frauen im Durchschnitt nahezu unverändert. Die Gründe für diese Unterschiede sind vielfältig. Eine mögliche Erklärung ist, dass Frauen ihre Gesundheitsausgaben generell anders planen und möglicherweise weniger stark auf finanzielle Anreize reagieren. Es könnte auch sein, dass Frauen im Durchschnitt häufiger regelmäßige Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen und daher weniger Flexibilität haben, ihre Ausgaben im Voraus zu planen.
Schlussfolgerung
Die Studie zeigt, dass junge Menschen, insbesondere Männer, ihr Gesundheitsverhalten ändern, wenn sie wissen, dass ihre Kostenbeteiligung im kommenden Jahr steigen wird. Diese Erkenntnisse sind sowohl für die Krankenversicherungen als auch für die Gesundheitspolitik von Bedeutung. Sie zeigen, dass vorausschauendes Verhalten die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen beeinflussen kann und dass die Ausgestaltung der Krankenversicherungen diese Verhaltensmuster berücksichtigen sollte.